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Familienvertreibung

Familie Sommer, Scheiben/Strobnitz

Heute nach etwa 50 Jahren scheint es mir manchmal, es wäre ein böser Traum gewesen, daß es einen Lebensabschnitt meiner Familie gab, an den wir uns nur mit Wehmut erinnern. Es kommen Bilder der Kindheit und der unbeschwerten Jugendzeit in Erinnerung und die Gedanken führen mich zurück in das Dorf Scheiben in Südböhmen, wo ich und meine Geschwister, aber auch die Eltern, geboren wurden und das einmal unsere Heimat war.

Und es wird jene Zeit wach, in der man uns dieser Heimat mit einem Federstrich als verlustig erklärte, in der man uraltes Recht aberkannte, in der man Millionen Menschen deutscher Sprache einfach über die Grenze ihrer einstigen Heimatländer jagte oder diese in Viehwaggons verlud und abschob, So möchte ich versuchen, über die Vorgänge bei der Aussiedlung aus unserer angestammten Heimat zu schreiben und das Leid, das auch meine Familie, meine Frau mit der 1 1/2 jährigen Tochter Helga, meine Eltern und Geschwister bewegte, in Worte fassen.
Denn gerade die Frauen und älteren Männer waren es, die nach den Wirren des Kriegsendes auch die Zeit der Vertreibung, oft allein, durchzustehen hatten. Ich selbst war, wie alle anderen überlebenden Männer, zu dieser Zeit in Kriegsgefangenschaft.

Am 13.5.1944 reichten wir uns, meine Frau Luise und ich, -sie stammt aus Lauterbach,- in der Pfarrkirche Harbach vor dem Priester und dem Allerheiligsten die Hände zum Bund für das Leben.
Wir versprachen uns ewige Treue, in guten und in Schlechten Zeiten, bis der Tod uns scheidet. Eine Woche des vierzehntägigen Urlaubes für unsere Hochzeit war ja bereits mit den Vorbereitungen verflossen. Unsere Verehelichung feierten wir nur im engsten Verwandtenkreise. Wir beide waren glücklich, vereint zu sein.

Um uns versank die Welt, wir schmiedeten Pläne eines gemeinsamen Beginnes, denn auch dieser Krieg mußte doch einmal ein Ende nehmen. Wir träumten in den folgenden Tagen unsere Zukunft voraus.
Sollten wir doch nach meiner Heimkehr den Bauernhof meiner Eltern übernehmen, den bereits vor 500 Jahren Lehenseigner gleichen Namens bewirtschafteten. Wir waren glücklich! Nichtsahnend der Zeit, die uns allzufrüh einholen sollte. Die meine Frau, da sie nun in meinem Elternhaus wohnte, in den Strudel einer mitleidlosen, ja von Haß erfüllten Zeit zog, eine Zeit, in der das Wort Menschenwürde des öfteren keinen Stellenwert mehr hatte.

Wohl der schönste Urlaub meines Lebens ging allzuschnell zu Ende. Ich mußte wieder zu meiner Einheit, einer Infanterie-Division, nach Dänemark zurück. Sie wurde hier nach einem Rußlandeinsatz neu ausgerüstet. Denn, wie es sich später herausstellte, erwartete man irgendwo im Westen eine Landung der alliierten Truppen. Bereits nach einigen Tagen wurden wir nach Holland verlegt. Bald danach, es war der 6. Juni 1944, landeten die Amerikaner und ihre Verbündeten in der Normandie in Frankreich.
Jaraufhin wurde unsere Einheit dorthin in Marsch gesetzt. Hier erwartete uns aber einer der verlustreichsten Einsätze meiner Kriegszeit und ich schäme mich heute nicht zu schreiben, daß ich in dieser Zeit öfter als sonst ein Vaterunser gebetet habe. Die deutsche Wehrmacht war aber dieser Materialüberlegenheit nicht mehr gewachsen und der Rückzug bis Deutschland begann.

Am 3.3.1945 kam ich westlich von Köln in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Abgemagert bis auf 48 kg, kam ich im Spätherbst desselben Jahres in ein französisches Arbeitslager in der Nähe von Nizza in Südfrankreich. (Hier lernte ich Herrn Schnabel aus Grünbach und auch Herrn Rupert Thaler, der später eine Zeit lang in Waldenstein wohnte, kennen). In diesem Arbeitslager waren aber bereits Gerüchte im Umlauf, daß die Tschechen alle Deutschen des
Landes verweisen wollen. Aber noch waren in mir und den anderen Schicksalsgenossen die seit altersher geltenden Rechtsbegriffe verwurzelt, denn es konnte doch nicht wahr sein, daß man den von den Vorfahren ererbten Grund und Boden einfach enteignet und die Menschen, die dort gelebt haben, einfach wie eine Herde Vieh Über die Grenze jagt. Daß man eventuell Funktionäre der Nationalsozialistischen Partei des Landes verweisen konnte, ließen wir mit Vorbehalt noch gelten, Diese herrschende Ungewißheit, sie betraf je auch meine Frau, Tochter, Eitern und Geschwister, ließ mir keine Ruhe. Noch dazu, so dies wirklich alle Deutschen des Landes betrifft, wären wir ja nachher sogar heimatlos.

Da ich einem Arbeitskommando zugeteilt wurde, das alle Arbeiten einer Marktgemeinde verrichten mußte, Angehörigen der Siegermächte in dieser Zeit keine Gefälligkeiten zugemutet werden konnten, lernte ich in Nizza einen Briefträger kennen, der seine Kriegsgefangenschaft in Österreich verbracht hatte und uns, -ich war hier
mit lauter Österreichern beisammen-, gut gesinnt war. Bei Arbeiten für Privatpersonen verdiente ich etwas Geld, so bat ich diesen Briefträger, den Postmeister zu bitten, so es möglich ist, mir ein Telegramm zu meinen Schwiegereltern nach Lauterbach zu besorgen, um endlich über das Schicksal meiner Angehörigen Gewißheit zu bekommen. Die Nachricht, die ich daraufhin bekam, war kurz und bündig: "Luisi mit Kind nach Bayern ausgesiedelt, deine
Kleider bei uns, Schwiegervater."

Über die Ereignisse in unserem Heimatort Scheiben möchte ich nun meine Frau erzählen lassen:

Wenngleich meine Schwi.egereltern mich mochten und auch ich ihnen zugetan war und ihnen vertraute, so breitete sich nun doch eine gewisse Leere um mich aus. Dazu kam noch die Angst um das Leben meines Mannes, da Sich der Krieg im Laufe des Jahres immer mehr verschärfte. Die Arbeit in der Landwirtschaft nahm dann auch mich voll in Anspruch. Mußten doch wir Frauen auch die schwere Männerarbeit, die früher auf diesem Bauernhof noch zusätzlich

2 Knechte verrichtet hatten, übernehmen. Als sich noch dazu ein neues Leben in mir regte und mich etwas ablenkte, wurde ich wieder ruhiger. So gebar ich danr am 5. Oktober 1944 unsere älteste Tochter Helga. Wir freuten uns alle über sie. Der Winter zog dann wieder ins Land, umhüllte mit seiner weißen Pracht alles Leben der Erde unter seiner schützenden Decke. Bei dessen Anblick man glauben möchte, es herrsche tiefster Frieden im ganzen Land und
Überall auf der Welt. Hans schrieb nun wieder regelmäßig, und wenn wir uns auch nicht zusammen über unser Kind freuen konnten, so war ich doch irgendwie zufrieden.

Aber mit Beginn des Frühjahres 1945 drohte die Welt über mich zu sammenzustürzen. Zwar schon beunruhigt durch längeres Ausbleiben einer Nachricht von meinem Mann, Standen eines Tages Ende des Monates März die beiden Ortsfunktionäre der Nationalsozialistischen Partei unseres Ortes, in ihrer gelbbraunen Uniform, in unserem
Haus. Bei ihrem Anblick wußten wir sofort, daß sie wegen Hans gekommen sind. Eine lähmende Stille breitete sich über uns, bis einer der beiden mit seinem gefürchteten Sprüchlein begann, das bereits zahlreiche Familien von Scheiben vor uns zu hören bekommen hatten: "Im Namen des Führers (-oder so ähnlich-) müssen wir ihnen mitteilen, daß ihr Sohn und Frau Sommer ihr Gatte von Seiner Einheit seit dem 3.3. d. J. als vermißt gemeldet wurde. Wol-
len sie bitte unsere Anteilnahme entgegennehmen."

Die Mutter reagierte als Erste und warf den beiden Männern alle ihr eingefallenen Unfreundlichkeiten an den Kopf, in solcher Ausdrucksweise, wie nur eine zutiefst getroffene Mutter fähig sein kann. Denn was kümmerte es eine Mutter oder Ehefrau, wenn man ihr sagte, daß es eine ÄEhre ist, für Führer, Volk und Vaterland sein Leben geben zu dürfen. Und doch soll es Fälle gegeben haben, daß solchen Frauen in ihrer Verzweiflung mit dem Gericht wegen Ehrenbeleidigung gedroht wurde. Für meine Schwiegermutter galt es als sicher, daß man uns nicht die volle Wahrheit gesagt hat und Hans tot sei. Auch ich war verzweifelt.

Es durfte doch nicht wahr sein, daß unser erst begonnener gemeinsamer Lebensweg jäh zu Ende sein sollte? Schlaflose Nächte mit tränenden Augen folgten diesem Tage, und nur durch das unbekümnerte Plappern und Lächeln meines Kindes und dem ruhigen Zuspruch meines Schwiegervaters, Hans sei wahrscheinlich doch in Gefangenschaft
gekommen, Sowie den Trostworten meiner Eltern in Lauterbach, die ich bis zu dieser Zeit,noch regelmäßig besuchte, wurde ich wieder ruhig. Als ich dann auch von der Einheit meines Mannes die Vermißtenanzeige bekam, daß die Umstände dafür sprächen, daß er in amerikanische Gefangenschaft geraten sein könnte, faßten ich und alle anderen im Hause wieder Soffnung.

Ab Mitte des Monats April brauchte man kein Radio mehr aufdrehen, um über den Stand des Krieges zu erfahren, man sah es bereits auf der Straße. Waren es anfangs Zivilpersonen und da meist ganze Familien aus dem östlichen Niederösterreich und Volksdeutsche aus Ungarn, ja auch aus Rumänien, die vor der herannahenden Front und
den Russen mit pferdebespannten Fahrzeugen, oft mit mitgeführten, am Fahrzeug festgebundenen Rindern, unterwegs waren, folgten bald gemischte Kolonnen und Angehörige von zivilen und militärischen Dienststellen. Sie kamen aus der Richtung Zwettl und wollten über Scheiben in Strobnitz die Hauptverbindungsstraße von Gmünd nach
Freistadt und Linz erreichen. Diese Hauptverbindungsstraße führte damals nicht, wie heute über Karlstift, sondern wurde nach 1938 durch das südböhmische Gebiet über Gratzen-Kaplitz nach Freistadt ausgebaut. Da das Ende des Krieges ersichtlich war, wollten alle noch das von den Amerikanern besetzte Gebiet erreichen, und es hieß auch, daß in Freistadt bereits die Amerikaner sind. Nicht endenwollender Strom von Fahrzeugen und Menschen wälzte sich durch unser Dorf. Als aber Anfang Mai nur mehr deutsche Kampfverbände zurückfluteten, ahnten wir, daß auch die Russen nicht mehr weit sein konnten. Es bot sich uns ein Bild der Auflösung, der Flucht, ja der nackten Angst vor der russischen Kriegsgefangenschaft. Alle suchten das Heil bei den Amerikanern, und doch sollten sie enttäuscht werden.

Es war aber auch ein trauriges Bild der einst so stolzen deutschen Wehrmacht. Motorisierte Fahrzeuge wurden wegen Treibstoffmangels stehen gelassen. Bespannte Einheiten spannten ihre übermüdeten Pferde aus und jagten diese in die Felder. Kriegsmaterial und Ausrüstung wurden weggeworfen, um Schneller vorwärts zu kommen. Versorgungseinheiten, die requiriertes Vieh mittrieben, jagten diese ebenfalls in die Wiesen.

Dann aber wurde es unheimlich still. Erst nach einigen Stunden wurde es von Harbach her wieder laut, es kamen die Russen.
Zuerst passierten einzelne Fahrzeuge, später zogen geschlossene Kolonnen durch den Ort. Anfangs waren wir angenehm überrascht.
Die Russen fragten nur wortkarg nach deutschen Soldaten und fuhren wieder weiter. Aber bald sollten wir sie von einer anderen Seite kennen lernen.

Nach einigen Tagen bekam auch Scheiben russische Einquartierung, und im Gasthaus nebenan, das aueh zu unserem Besitz gehörte, wurde eine russische Kommandantur eingerichtet. Es begann die Frauenjagd, Frauen waren Freiwild. Vergewaltigungen und Mißhandlungen bei Nichterhören waren an der Tagesordnung. Daß wir die Kommandan-
tur in der Nachbarschaft hatten und in unserem Haus Offiziere verkehrten, hatten wir es ruhiger. Aber auch wir trauten den Frieden nicht. Da wir eine abgelegene, . größere Kammer hatten, richteten wir diese häuslich ein. Über Nacht bezog ich mit meinem Töchterchen Helga, den beiden Schwägerinnen Marie und Luise, sowie einer
Cousine der beiden,- sie war Dienstmädchen bei uns-, und Frau Balluch mit 3 Kleinkindern dort Quartier. Eine Türe wurde mit Kästen verstellt, eine zweite mit altem Gerümpel verlegt. Die Notdurft mußte tagsüber auf einem Kübel verrichtet werden. Zur Familie Balluch möchte ich noch ergänzen, daß sie aus Ringelsdorf im Bezirk Zistersdorf stammten. Als im Winter die Front an Österreich heranrückte, wurde ihnen eine Evakuierung empfohlen. Seit dieser
Zeit wohnten Herr und Frau Balluch mit den Kindern bei uns im Hause.

Nach kurzer Zeit begann es auf der Straße wieder laut zu werden. Nicht-enden-wollende Kolonnen deutscher Soldaten, aber auch Zivilisten und Frauen, wurden als Gefangene entgegengesetzt, also in Richtung Weitra, durch den Ort geführt, um als kostenlose Arbeitskräfte nach Rußland irgendwo in Waggons verladen zu werden.

Auf ihrem Rückmarsch bei der Flucht vor der Roten Armee vor ungefähr zwei bis drei Wochen, hatten diese zwar das amerikanische Besatzungsgebiet im Mühlviertel erreicht, aber großzügig wie die Amerikaner damals waren, haben sie das gesamte Mühlviertel nachher mit allen sich dort befindlichen deutschen Gefangenen den Aussen übergeben. Ein Stück Brot, ein Schluck Wasser und gekochte Kartoffel, waren nun für sie ein Leckerbissen, sie hatten Hunger.

So wie wir uns verkrochen hatten, verschwanden auch im übrigen Ort die Mädchen und jungen Frauen vom Ortsbild. Es wurde sogar
eine alte Frau mit über 70 Jahren vergewaltigt. Nach etwa 3 Wo-
chen wurde es aber doch ruhiger. Waren die russischen Einheiten
gewechselt oder die Soldaten zurückgepfiffen worden? Wir wußten
es nicht. Jedenfalls verließen wir vorerst zeitweise unseren Zwangs-
aufenthalt, der uns bereits zur Qual geworden war. Besonders die
Kinder waren nicht mehr ertragsbar. Auf den Feldern und Wiesen be-
gannen nun auch die kKussen aufzuräumen. Das herumlaufende Vieh
und die Pferde wurden zusammengetrieben und von ihnen weggebracht.
Sie durchsuchten auch die Ställe des Dorfes und nahmen auch da
Vieh mit,mit der Begründung, es wäre von den Hausbesitzern einge-
fangen worden.

bs war inzwischen Juni 1945 geworden. Und um diese Zeit begann

für uns Deutsche der Anfang vom Ende. Waren es bis jetzt gelegent-
lich russische Hausdurchsuchungen, die versteckten deutschen Sol-
daten galten, -wertvolle Sachen wurden auch von ihnen mitgenon-
men-, so kamen nun bewaffnete tschechische Partisanen und führten
regelrechte Plünderungen von Lebensmitteln, Stoffen und Wertgegen-

ständen, mit der Begründung nach versteckten Waffen zu suchen,
durch. Aber auch ehemalige ‚Ostarbeiter’ suchten nach Lebensmit-
teln und Wertgegenständen. Und so mußten Fleisch, Mehl, Getreide
und sonstige Lebensmittel im Heu und Stroh oder in Zwischenböden
versteckt werden, um selbst etwas zum Essen zu haben.

Im Juli begannen die Tschechen langsam wieder die Verwaltung zu
Übernehmen und von ihnen schlug uns offener Haß entgegen. Das
russische Militär wurde vom tschechischen abgelöst. Diese hatte

Ja auch die Aufgabe, die wiedererstandene Staatsgrenze zu Öster-
reich zu schützen. Das ehemalige Zollhaus, es diente während des
Krieges als weibliches Arbeitsdienstlager, wurde wieder von tsche-
chischen Zöllnern besetzt und im Dorf etablierte sich ein tsche-
chischer Kommissar. Dieser war bereits vor dem Jahre 1938 in
Scheiben als Zollamtsleiter tätig. Zum Glück der Bewohner des
Grenzdorfes Scheiben war er persönlich ein gemäßigter Tscheche,
verglichen mit Kommissaren anderer deutscher Ortschaften.

Die Grenze wurde geschlossen und so war mir der Zugang zu meinen
#ltern in Lauterbach verwehrt. Das Militär und die Zöllner ernähr-
ten sich in den ersten Wochen hauptsächlich vom Dorfe. Die Lebens-
mittel wurden zwar von ihnen nach eigenem Ermessen bezahlt, aber
sie verwendeten wertloses deutsches Besatzungsgeld, ich glaube

es hieß Rentenmark, oder wertloses Protektoratsgeld. "Gekauftes"
Vieh und Schweine wurden nur geschätzt und so bezahlt. Nur lang-
sam kam die neue Landeswährung, die Tschechenkrone, wieder in
Umlauf,

Als erste Maßnahme der neuen tschechischen Verwaltung wurde ange-
ordnet, daß alle Personen deutscher Abstammung und deutschen Be-
kenntnisses eine weiße Armbinde zu tragen hatten. Alle jene, die
nicht bei der NSDAP waren, bekamen ein N (Nemci - Deutscher) und
Parteimitglieder zwei N (Nemci-Nazi) aufgedruckt.

Weiters mußten alle Radios und Fahrräder, soweit diese nicht be-
reits gestohlen worden waren, abgegeben werden. Damit bestand
wieder ein Grund nach nicht Abgegebenem in den Häusern zu suchen
und zu plündern. Im Allgemeinen wurde es aber ruhiger und wir be-
gannen nun auch wieder mit der Arbeit in der Landwirtschaft.

Bereits im Juli tauchte das Gerücht auf, daß alle deutschen Bewoh-
ner nach Deutschland ausgesiedelt werden. Daraufhin riefen die
deutschen Pfarrherren der umliegenden Pfarren zu einem Bittgang
zur Muttergottes nach Brünnl auf, welcher von den Tschechen sogar
geduldet wurde. Sie aber lachten nur darüber. In großer Prozession
folgten die Bewohner der deutschen Ortschaften dieser Aufforde-
rung. Es war aber leider umsonst, die weltlichen Mächte waren
stärker.

Natürlich zweifelten anfangs alle an diesem Gerücht, denn sollten
uralte Eigentumsrechte auch von den westlichen Staatsmännern für
null und nichtig erklärt worden sein? Niemand glaubte, daß die

USA es zulassen würden, daß so viele Millionen Deutsche ihrer
Heimat beraubt werden. Man konnte doch nicht die Bevölkerung der
deutschen Ostgebiete für die kriegslüsterne deutsche Führungsspit-
ze büßen lassen! Aber Amerika und auch England waren in ihrem Sie-
gestaumel auch zu diesen Konzessionen bereit. Deutschland hatte
den Krieg verloren und seine Bewohner wurden zu dieser Zeit von
der ganzen Welt gehaßt. Frankreich soll angeblich diesen Umsied-
lungsvertrag von Potsdam nicht unterschrieben haben.

Verängstigt durch das Aussiedlungsgerücht und den nun einsetzenden
Verhören und Mißhandlungen, ja Inhaftierungen von Funktionären der
NSDAP, wurden viele unruhig und gingen mit ihren Familien in den

Nächten, oft sogar mit Fuhrwerken, über die nahe Grenze nach
Osterreich. Da nun die Tschechen wahlloes anfingen, ganze Famili-
en, nur mit der notwendigsten Bekleidung versehen, in das Landes-
innere als Arbeitskräfte zu verschleppen, begannen sich die deut-
Schen Dörfer zu leeren, Um diese Zeit, etwa Oktober 1945, bekamen
in Scheiben auch jene Pamilien, die vor 1938 die österreichische
Staatsbürgerschaft besaßen, die Aufforderung, sich mit nur wenig
Gepäck auf dem tschechischen Zollamt einzufinden. Es waren dies

5 Familien und wurden sie nach Österreich ausgewiesen.

Ähnliches erwartend, hatten viele bereits in den Nächten das
Notwendigste bei Bekannten in den Dörfern Harbach und Lauterbach
im Waldviertel in Sicherheit gebracht. Und so kam dann Weihnachten
1945. Es war wohl das traurigste Weihnachtsfest bisher in meinen
Leben. Nur die unbekümmerte, strahlende Freude meines Kindes, am
zwar kargen, Jedoch leuchtenden Christbaum ließ mich nicht sofort
losheulen. Da wir von Hans, meinem Mann, immer noch kein Lebens-
zeichen hatten, begann mich und auch Mutter des öfteren der Zwei-
fel, aber auch Mutlosigkeit zu überkommen.

Und so ersuchte ich dann auch meinen Vater, -wir hatten des
Nachts, oft bei knietiefem Schnee, wieder einmal Wäsche und Ge-
schirr zu meinen Eltern über die Grenze gebracht- er möge für
mich und mein Kind Helga bei der österreichischen Behörde um die
Einreiseerlaubnis ansuchen, Auch die Schwiegereltern redeten mir
in diesem Sinne zu. Ich möchte es gleich vorweg nehmen, das An-
suchen wurde mit der Begründung abgelehnt, ich sei nun eine
Sudetendeutsche. Mein Geburts- und Heimatland Österreich hatte
also keinen Platz mehr für mich. Man gab mir den Rat, ich solle
mit dem Kind, wie viele andere, schwarz über die Grenze gehen.
Dazu fand ich aber nicht die Kraft. Den Weg kannte ich wohl, da
aber immer wieder an der Grenze Schüsse fielen, hatte ich Angst,
erwischt, auf der Flucht irgendwo im Wald verletzt zu werden und
mit dem Kind liegen bleiben zu müssen, oder mit ihm in ein tsche-
chisches Arbeitslager eingeliefert und eventuell sogar von meinem
Kind getrennt zu werden. So blieb ich bei den Schwiegereltern

in der Tschechoslowakei, egal was nun kommen würde,

Aber noch lange schien das Maß des Leides in unserer Verzweiflung
nicht voll zu sein. Es war Anfang Februar 1946, Eines Tages be-
luden Vater und Alfred einen leichten Fuhrschlitten mit Getreide
und Haushaltsgegenständen, um mit dem einzig noch im Stall verplie-
benem Pferd gegen Abend über die Grenze nach Harbach und weiter
nach Lauterbach zu fahren, Alfred wurde 3-jährig als Waisenkind
von den Schwiegereltern ins Haus genommen und war nun 16 Jahre
alt. Als aber beide mit dem Gefährt die Grenze erreichten, erwar-
tete sie bereits eine russische Militärstreife. Die Fahrt ging
zwar bis Harbach weiter, aber dort wurde alles beschlagnahmt und
beide Männer wurden in das tschechische Arbeitslager, im damaligen
Gmünd III, eingeliefert. Somit waren wir vier Frauen auf uns allein
gestellt. Die Familie Balluch war bereits vor Weihnachten in ihre
niederösterreichische Heimat zurückgekehrt.

Dann aber drohte mich ein Ereignis aus der Fassung zu bringen.
Eines Tages, im März, stand auf einmal der tschechische Briefträ-
ger, der ja in den deutschen noch bewohnten Häusern bereits eine
Seltenheit war, bei uns im Hause, Aus seinem Kauderwelsch hörte
ich meinen Namen heraus und er übergab mir eine Postkarte mit
einem roten Kreuz darauf. Ich traute meinen Augen nicht: "Ich bin
gesund und es geht mir gut. Hans." Ich mußte es immer wieder

lesen, pis ich endlich begriff, was diese Karte für mich bedeute-
te. Nun riß ich Helga in meine Arme und rief immer wieder zu:
"Der Vater lebt! Der Vater lebt!" und dabei führte ich mit ihr
einen wahren Freudentanz auf. Nachher dankte ich aber auch in
einem stillen Gebet, daß es möglich geworden war, daß gerade in
dieser Zeit mich diese Nachricht erreichen konnte. Nun war ein
Großteil der Hoffnungslosigkeit von mir abgefallen und ich konnte
wieder klare Gedanken fassen, denn die Mühlsteine, die uns erfaßt
hatten, drehten sich unerbittlich weiter. Bereits kurze Zeit spä-
ter wurde uns der amtliche Ausweisungsbescheid ins Haus gebracht.
Er hatte folgenden Wortlaut:

"Sie sind zum Transfer in Ihre Heimat (d.h. heim ins Reich) be-
stimmt worden und werden am 10.4.1946 um 6 Uhr in die Sammelstel-
le Kaplitz abtransportiert.

Zum Mitnehmen sind: 2 Decken, 4 Wäschegarnituren, 2 gute Arbeits-
anzüge, 2 Paar gute Arbeitsschuhe, 1 guter Arbeitsmantel (Winter-
rock), 1 Eßschale, 1 Tasse und 1 Eßbesteck, 2 Handtücher unf Sei-
fe, Nähzeug (Nadel und Zwirn), Lebensmittelkarten und die amtli-
chen Personenausweise und Dokumente,

Weiter können Sie Gegenstände Ihres Personenbedarfes, etwas unver-
derbliche Lebensmittel und ähnliches mitnehmen. Alle Ihre Sachen
dürfen das Gesamtgewicht von 50 kg pro Person nicht überschreiten.
Sämtlicher Schmuck, Wertgegenstände, Geld und Einlagebücher
(außer der Reichsmark) ‚schreiben Sie auf und geben Sie in einen
Sack mit Ihrem Namen und der Anschrift an dem Ort der Zusammen-
kunft ab.

Bei dem Verlassen Ihrer Wohnung sind Sie verpflichtet alle Ein-
gänge zu den Wohnungs- und Betriebsräumen zu zusperren, die
Schlüssel mit einem Kartonschild mit Ihrem Namen und Anschrift zu
versehen und am Ort der Zusammenkunft abzugeben.

Die Schlüssellöcher müssen mit den beigelegten Papierstreifen
überklebt werden, sodaß die Türen ohne Beschädigung der Streifen
nicht geöffnet werden können. Auf den Streifen unterschreibt sich
der Haushaltsvorstand eigenhändig.

£s wird drirgendsi darauf hingewiesen, daß nichts von Ihrem Eigen-
tum verkauft, verschenkt, geborgt oder sonstwie veräußert werden
darf.

Die Nichtbefolgung dieser Anordnungen wird bestraft.

Eigentlich hatte uns dieses Schriftstück nicht einmal sonderlich
erregt, obzwar es dem Besitzrecht unseres uralten Bauernstammes
das Ende setzte und damit der Weg frei war, uns einer von Haß er-
füllten Welt zu überantworten. Am Beispiel der anderen Ortschaften
wußten wir, daß es für uns keinen anderen Weg mehr gab, wollten
wir wenigstens das nackte Leben retten.

Kurz darauf mußte das noch Üübriggebliebene Vieh in einer Weidekop-
pel hinter unserem Haus zusammengetrieben werden. Es wurde von da
von tschechischen Interessenten in das Landesinnere getrieben.
Natürlich mußten wir es ohne Bezahlung den Tschechen überlassen.
Eine Begebenheit an diesem Tage, als das Vieh zusammengetrieben
wurde, ist mir unauslöschlich in Erinnerung:

Meine Schwägerin Luise und ich standen gerade am Zaun der Weide-
koppel, da kam zaghaften Schrittes der 10-jährige Hansi Fröstl
mit seinem Zwerghuhn an die Brust gedrückt und Tränen in den
Augen daher, um es ebenfalls abzugeben. Es mußten auch die noch
vorhandenen Hühner abgeliefert werden. Er wollte sein Huhn in le-
bender Erinnerung behalten. Als die Tschechen ihn sahen, stürzten
sich auch Schon einige Frauen wie die Hyänen auf ihn und rissen



ihm das Huhn aus den Händen. Meine Schwägerin Luise verlor trotz
der herumstehenden Soldaten die Beherrschung, sprang die Tsche-
chin an, riß ihr das Huhn aus den Händen und schrie ihr alle
Grobheiten ins Gesicht, die ihr momentan einfielen. Danach gab
sie das Huhn dem Hansl wieder zurück. Aber was nutzte es, er muß-
te es ja doch abgeben.

Für meine Tochter wurde mir in Langstrobnitz ein noch bewohntes
Haus angewiesen, wo ich mir für sie Milch holen konnte.

Nun aber galt unsere Sorge Vater und Alfred, um sie aus dem Ar-
beitslager frei zu bekommen, damit sie mit uns ausgesiedelt wer-
den. So baten wir den tschechischen Kommissar, er möge für uns
geeignete Schritte zu diesem Zwecke unternehmen. Er tat es und
bekam tatsächlich die beiden Männer frei, wofür wir ihm natür-
lich sehr dankten. So waren wir wenigstens wieder alle, bis auf
Hans, beisammen. Und es kam dann dieser denkwürdige Tag des Ver-
lassenmüssens der Heimat, der 10. April 1946. Es war ja vorge-
schrieben, was wir mitnehmen durften, und dennoch gestaltete es
sich sehr schwer bei der Auswahl der bewilligten Habe, denn 50
kg, alles in allem, war nicht viel. An Schlaf in der letzten
Nacht war nicht mehr zu denken, zu Schwer lastete die Ungewißheit
des Schicksals auf unserem Gemüt. Es war eine nicht endenwollende
Nacht. Früh am Morgen schafften dann Alfred und die beiden Schwä-
gerinnen unser Gepäck zur angegebenen Sammelstelle, dem Haus unse-
res Nachbarn. Noch einmal ging ich mit meinem Kinde durch das
Haus, aber in den beiden Viehställen erfaßte mich die gähnende
Leere, die mich zu erdrücken drohte. Wieder sah ich das hämische
Grinsen der Tschechen, als sie unser Vieh wegtrieben. Ich konnte
nicht einmal mehr weinen, meine Augen brannten und waren leer.
Meine grenzenlose Niedergeschlagenheit schien nun auch Helga zu
ahnen, ängstlich drängte sie mich: "Mama, Opa gehma!" Und so
Schlossen ich und Vater als Letzte die Tür unseres Hauses und

' unserer Heimat hinter unserem kücken.

Bei der Sammelstelle wurde wieder jede Fanilie mit dem Gepäck ins
Haus beordert. Das Gepäck wurde kontrolliert und nachgewogen.
Wurden dabei irgendwelche wertvollen Sachen entdeckt, So wurden
diese einfach abgenommen, Dann war eben zuviel eingepackt. Besor-
ders Frauen mußten sich fallweise wegen Schmuckes sogar Leibes-
visitationen unterziehen. Bei einigen wurde sogar im After oder
im Geschlechtsteil gesucht. Inzwischen kamen auch Schon Lastautos
angefahren, und einer nach dem anderen wurde mit Koffern, Bündeln
und den dazugehörigen Besitzern verladen,

Noch einmal suchten die Augen das verlassene anwesen, den Ort der
unbeschwerten Kindheit, ja der glücklichen Jugend und der Bleibe
der alten Generation, wo sie nach getaner Arbeit den Lebensabend
in Ruhe verbringen zu können glaubten. Die Motoren zogen an, eine
stumpfe nesignation erfaßte jeden. Die erste »tation war ein Sam-
mellager in Kaplitz. Abermalige Gepäckkontrollen waren an der Ta-
gesordnung. Wertvolle Stoffe und Wäsche weckselten wieder den be-
sitzer.

Dann ging es abermals weiter zum Bahnhof, wo wir mit unserer letz-
ten Habe in Güterwaggons verladen wurden. Und sowurden wir am
nächsten Tag in Furth im Walde an Bayern überstellt. In der Nähe
von München verlud man uns wieder auf LKW, um mit einigen anderen
Familien aus Scheiben in Altkirchen, südlich von München, mitten
im Dorf in der Nähe der Kirche, abgeladen, um von der Gemeinde
Eichenhausen untergebracht zu werden. Es dauerte auch nicht lange,

bis die ersten Neugierigen kamen, einem Viehmarkt gleich, um die
ausgestellten Tiere auf ihre Leistungsfähigkeit zu prüfen. Hier
wurde uns erst bewußt, was aus uns geworden ist. Aus den Redens-
arten der uns Umstehenden, es waren hauptsächlich Bauern, hörten
wir zum ersten Mal den Namen Flüchtling und wir wußten, daß dies
uns anging.

Die Jüngeren hatten bald ein Quartier, sprich Arbeitsplatz. Schlech-
ter war es Schon bei der älteren Generation und Frauen mit Kin-
dern. Übrig blieben schließlich ich mit Helga, der Vater und die
kränkliche Mutter. Wir mußten zwangseingewiesen werden. Am Ein-
gang des Stübels eines Bauernhofes empfing uns die Bäuerin mit

den Worten: "Daß es wißt’s, wir haben das Stübel nicht für Euch
sondern für uns gebaut!" Und sie ging daraufhin wieder ihres
Weges. Wir waren verzeifelt. Was nutzte es, ob wir wollten oder
nicht, wir mußten dies Quartier beziehen. In der Küche stand Gott
sei Dank ein Herd und ein Tisch mit einigen Hockern aus irgendei-
ner Militärunterkunft, und in zwei Räumen je zwei Betten mit Stroh-
sack, zum Übereinanderstellen, ebenfalls aus deutschem Heeresei-
gentum. Dies war alles, Schränke gab es nicht. Die Kleider mußten
wir auf eine Stange hängen.

Gleich am nächsten Tag begannen Vater und ich am selben Bauernhof
zu arbeiten. Wir brauchten ja etwas zu essen und Mutter beaufsich-
tigte Helga. Und doch war es unsere Bäuerin, die uns am Eingang

zu unserer Unterkunft das letzte bißchen Vertrauen an das Gute des
Menschen, die dieselbe Sprache hatten als wir, genommen hatte, -
die mir Später immer wieder Lebensmittel für Vater und Mutter und
meinem Kinde zusteckte, wovon der Bauer allerdings nichts wissen
durfte. Ich bekam ja mein Essen bei den Bauersleuten.

Als dann Ende Mai 1946, zwar angekündigt, plötzlich Hans, mein
Mann, vor mir stand, fiel all das Blei der Angst um sein Leben,

die Bitternis und die Verzweiflung, die ich zwei Jahre mit mir
geschleppt hatte, von mir ab. Was wog dagegen all das Verlorene in
diesem Augenblick, wir hatten uns wieder und waren glücklich. In
den vergangenen Wochen und Monaten habe ich aber auch erfahren,
welche Kraft mir mein Kind gab, um all dies leichter durchzustehen.

Nun aber wieder zurück ins Arbeitslager nach Südfrankreich:
Einige Mal las ich den trockenen Wortlaut dieses Telegrammes, und
nach und nach kam mir erst ins Bewußtsein, was dieser Inhalt für
mich und meine Angehörigen bedeutete. Es war also alles verloren,
wir waren heimatlos, was damals staatenlos bedeutete.

Da im Jahre 1938 der größte Teil des deutschsprachigen Gebietes
von Südböhmen dem damaligen Gau Oberdonau zugeordnet wurde, habe
ich mich auch in der Gefangenschaft wieder als Österreicher be-
kannt und so kam es, daß im Arbeitslager in Südfrankreich haupt-
sächlich Landsleute aus Niederösterreich beisammen waren.

Eines Tages, es war Ende April 1946, kam die Parole auf, daß die
österreichischen Gefangenen entlassen werden, was sich auch bald
als Wirklichkeit abzeichnete. Leider mußte ich auch erfahren,

daß man nach Sudetendeutschen Suchte, denn auch die Franzosen
brauchten billige Arbeitskräfte. Irgendwie hatten sie etwas von
den 13 Gemeinden um Gmünd erfahren, die im Jahre 1920 an die Tsche-
choslowakei abgetreten worden waren. Und so Suchte man bei allen
Niederösterreichern, bei denen einer der Namen dieser Ortschaften
aufschien, sehr genau. Meist wurden diese zu Verhören vorgeladen
und jeder dieser Bedauernswerten, der aus diesen 15 Gemeinden
stammte, wurde in ein anderes Lager abgeschoben. Da ich als Ent-

lassungsort Lauterbach angegeben hatte, wurde ich, bewußt oder
unbewußt, in Ruhe gelassen.

Und So ging es eines Tages, schneller als wir dachten, in ein
Entlassungslager nach Innsbruck. Hier atmete ich im Stillen be-
reits auf. Falls man mir wegen meiner Sudetendeutschen Abstammung
eventuell Schwierigkeiten bereiten sollte, wäre ich zur Flucht
entschlossen gewesen. Nun, es geschah Gott sei Dank nichts. Mit
einem Sammeltransport wurde ich nach Wien in die russische Besat-
zungszone weitergeleitet und am 5, Mai 1946 nach Lauterbach ent-
lassen.

Aus meiner kurzen Aufenthaltszeit bei meinen Schwiegereltern
möchte ich noch eine Begebenheit schildern, die mich erstaunen
ließ. Ich war noch keine Woche in Lauterbach, als ich bereits
durch einen Österreichischen Zöllner die Einladung, verbunden
mit einem Gruß vom tschechischen Kommissar und Zollamtsleiter von
Scheiben bekam, ich möchte in das Zollamt Scheiben zu einer kurzen
Aussprache kommen. Getrieben von der Sorge um die Angehörigen,
vielleicht doch etwas über ihr Schicksal zu erfahren, und noch
einmal heimatlichen Boden betreten zu können, folgte ich dieser
Einladung mit gemischten Gefühlen. Eine Vorsprache beim Österrei-
chischen Zollamtsleiter des Zollamtes Harbach bestätigte mir, daß
ich nichts zu befürchten hätte. So betrat ich noch einmal das
mir sehr gut bekannte Gebäude, Genauso wie es mich überraschte,
daß die Tschechen bereits einige Tage nach meiner Entlassung von
meiner Anwesenheit in Lauterbach wußten, so überraschte es mich,
daß Herr Kalasch sein Bedauern über das Vorgehan Seiner Regierung
den Deutschen gegenüber zum Ausdruck brachte, ‚Glauben Sie mir
Herr Sommer, ich habe es nicht glauben wollen, daß man alle
Deutschen des Landes verweisen wird’.

Was sollte ich ihm antworten, ohne meine Freiheit sinnlos zu ge-
fährden? Mir lag viel auf der Zunge, denn ich haßte nun dieses
Volk. Nach einem weiteren belanglösen Gespräch haben wir uns,
jeder zumindest äußerlich, herzlich verabschiedet.

Inzwischen hatte sich auch meine Frau aus Bayern gemeldet und
ihren Aufenthaltsort bekannt gegeben. So machte ich mich mit eini-
gen Bündeln Kleider und Wäsche auf den Weg nach Linz, denn ich
hatte erfahren, daß von dort regelmäßig Aussiedlertransporte nach
Deutschland zusammengestellt werden. Eine bekannte Familie meiner
Schwiegereltern, in Linz wohnend, besorgte mir einen Passierschein
über die Brücke in das amerikanische Resatzungsgebiet, ich kam
dann ungeschoren in ein Aussiedlerlager. Nach einer Woche Aufent-
halt ließ ich mich zu einen Transport einteilen, der über München
nach Württemberg lief. Auf einem Güterbahnhof in München sprang
ich einfach von diesem Transport mit meinen Bündeln ab. In welche
Richtung ich weiter mußte, wußte ich ja. Ich hatte Glück, -nur
wenige Geleise entfernt stand eine Lokomotive, deren Führer mich
kurz darauf, für einige Zigaretten, meinem Ziel näher brachte,
Leider waren es einige Stationen zu wenig und ich mußte im Warte-
raum eines Bahnhofes übernachten. Aber auch diese Nacht verging
und am nächsten Vormittag, Ende des Monats Mai, waren wir, meine
liebe Frau und ich, wieder vereint. Natürlich wollte ich auch
gleich unsere Tochter Helga in die Arme schließen, aber sie zog

es vor, einem ihr fremden Mann gegenüber vorsichtig zu Sein und
suchte vorerst den Schutz der Mama.

Nach einigen Tagen fing auch ich bei unserem Quartierbauern zu
arbeiten an. Vater wechselte nach einigen Wochen den Arbeitsplatz
und arbeitete als Hilfsarbeiter bei einem Maurermeister. Wenn-
gleich auch ich wo anders mehr verdient hätte, so stand doch unser

Quartier auf dem Spiel, denn wir genossen keinen Mieterschutz.

Aus der nun folgenden Zeit bis gegen Ende des Jahres 1948 möchte
ich über zwei Ereignisse schreiben, die eigentlich unseren weite-
ren Lebensweg grundlegend beeinflußten.

Hatten wir anfangs noch geglaubt, Amerika würde das drohende rus-
sische Übergewicht in Europa doch nicht hinnehmen und wir dadurch
vielleicht doch wieder in unsere Heimat zurückkehren könnten,
mußten wir leider langsam einsehen, daß wir umsonst hofften.

Da meine Frau meine Zeugnisse von der deutschen Ackerbauschule
in Budweis nach Lauterbach gerettet hatte, bewarb ich mich im
Jahre 1948 um eine entsprechende Anstellung auf einem Großgrund-
besitz. Ich wurde daraufhin auch einige mal zur Vorsprache einge-
laden, als sich aber herausstellte, woher ich komme, wurde ich
Jedesmal aus irgendeinem Grunde abgewiesen. Diese allgemeine Iso-
lierung und der uns des öfteren offen begegnete Haß bewirkte in
uns eine zu tiefst empfundene Bitternis, so daß wir uns mit dem
Gedanken trugen, das schwedische Angebot, junge sudetendeutsche
Familien aufzunehmen, zu überlegen und dorthin auszuwandern.
Natürlich mußte ich unseren Plan auch den Eltern bekanntgeben

und da bekam ich von meinem Vater eine Antwort, die ich nicht er-
wartet habe: ‚So, Ihr wollt auswandern?’ begann er, ‚Hans, drei-
hundert Jahre waren wir Bauern und Du willst ausspringen?’ ‚Ja
Vater, wie stellt Ihr Euch das eigentlich vor, Ihr seht doch sel-
ber, wie man hier in Bayern gegen uns steht?’ ‚Ja ich weiß’ fuhr
er fort ‚aber ich wüßte einen anderen Weg. Dein Schwiegervater in
Lauterbach ist doch ein angesehener Mann und unser Name hatte, so
glaube ich wenigstens, bis Weitra auch einen guten Klang. So müß-
te es ihm doch möglich sein, in diesem Raum für Euch eine Pach-
tung zu besorgen, um so später wieder eigenen Grund und Boden zu
bekommen. Außerdem hat er auch Freunde und Bekannte in Wien, die
uns die Einreisebewilligung nach Österreich besorgen könnten?’

Und diesen Weg gingen wir. Anfangs des Jahres 1949 bekamen wir aus
Lauterbach die Nachricht, daß wir eine Landwirtschaft in Roßbruck
bei St. Martin zur Pachtung übernehmen könnten und daß wir dazu
eine Einreisegenehmigung nach Österreich bekommen werden.

Und so beluden wir, am 9.6.1949 frühmorgens, einen kleinen Last-
kraftwagen mit unseren Habseligkeiten und übersiedelten nach
Österreich. Vater und Mutter fuhren mit uns, die beiden Schwestern
und Alfred verblieben in Bayern. Daß auch die Gemeinde eher er-
freut über unsere Abreise war, zeigte sich, als uns der Vater am
Vortage beim Bürgermeister abmeldete. ‚Habt Ihr das Geld für die
Übersiedlung beisammen?’ fragte er den Vater. ‚Ja, wir mußten

das Auto im vorhinein bezahlen’. Und dennoch griff er zur Geld-
börse und gab ihm 50 DM. ‚Damit Ihr Euch auch eine Brotzeit (Jause)
kaufen könnt!’ So übernahmen wir, im Waldviertel angekommen, in
Roßbruck das Bauernhaus Nr. 15 auf Grund eines Pachtvertrages zur
Bewirtschaftung. Die Schwiegereltern gaben uns als Aussteuer für
meine Frau eine Kuh und ein Perkel. Das Vieh, das wir vom Verpäch-
ter übernahmen, wurde gewogen. Als Anspann dienten uns zwei Och-
sen. ES war ein Schweres Beginnen. Unsere Geldbörse war leer,

oft war nun Schmalhans Küchenmeister. Fleisch gab es nur Sonntags,
mußten wir es doch kaufen. Die Hauptspeise waren Kartoffel in allen
Variationen, Aber wir hatten wieder ein Ziel vor den Augen und so
kamen wir leichter über die ersten Schwierigkeiten hinweg. Ein
wahres Freudenfest war es, als wir unser erstes Schwein schlachte-
ten. Leider mußten wir eine Hälfte verkaufen, um zu Geld zu konm-

men. Außerdem hatte sich unsere Familie vergrößert, der älteste
Sohn Willi erblickte bereits am 4.4.1947 in einer Geburtenklinik
in München das Licht der Welt.

So kam das Jahr 1950, das uns wieder einen Wohnungswechsel ankün-
digte. Zwischen meinem Schwiegervater, dessen Gesundheit zu wün-
schen übrig ließ, und Seinem Sohn, dem Bruder meiner Frau, kam es
zu dieser Zeit aus persönlichen Gründen Öfters zu unliebsamen
Auseinandersetzungen. Man glaubte zwar, sie wären nur oberfläch-
licher Natur, aber eines Tages verließ der Schwager das Elternhaus
und ging nach Wien. So waren nun die beiden alten Menschen mit
ihrem Bauernhaus allein. Eines Tages wurde uns ihr Wunsch unter-
breitet, wir möchten doch zu ihnen kommen, um auf eigene Rechnung
weiter zu wirtschaften, wobei uns eine Mindestzeit von 5 Jahren
zugesichert wurde,

So kündigten wir für den Spätherbst 1951 unseren Pachtvertrag in
Roßbruck auf und zogen nach Lauterbach in das Heimathaus meiner
Frau.

Aber bereits Ende des Jahres 1952 merkten wir, daß der Schwager
wieder Kontakt zu seinen Eltern suchte, und so waren wir nicht
sonderlich überrascht, als er im Winter wieder nach Hause kan, um,
wie wir bald erfahren mußten, die elterliche Wirtschaft zu über-
nehmen. Wir hätten ja nun auf unsere Vereinbarung pochen können,
aber es wäre für uns doch nur eine verlorene Zeit gewesen.

wir wollten jetzt versuchen, ein Bauernhaus auf Leibrente zu be-
Kommen. Zum Kauf fehlte uns das Bargeld, und die Herumzieherei
hatten wir auch Schon satt.

Bereits im Frühjahr des Jahres 1953 bekamen wir von Anton Himmer,
dem Cousin meiner Frau, die Nachricht, daß in Großreichenbach,

das zur Pfarre Waldenstein gehörte, die kheleute Franz und Sofie
Kugler ihr Bauernhaus samt Grund und Inventar auf Leibrente ver-
kaufen würden. Von Anton Himmer, der in diesem Haus persönlich
bekannt war und anfangs als Vermittler auftrat, wußten die Eesitzer
auch über unsere Herkunft und Vergangenheit Bescheid.

So setzten wir uns an einem Sonntag auf die Fahrräder und fuhren
bangen Herzens nach Großreichenbach, um uns ‚Anschauen zu lassen’
und um uns das Haus auch selbst anzusehen, Bei dieser ersten Vor-
sprache erfuhren wir auch in groben Umrissen, unter welchen Bedin-
gungen Herr und Frau Kugler gewillt wären, uns ihren Besitz auf
Leibrente zu verkaufen. Die dabei genannten Bedingungen und Leis-
tungen waren hart, und dennoch mußten wir zugeben, daß sie der
Realität entsprachen. Vertrauten sie doch uns mit ihrer Unter-
schrift unwiderruflich ihren Besitz, ohne jede Haftung, an, Das
bedeutete, daß sie in uns ihr volles Vertrauen setzten, um ihren
Lebensabend ohne finanzielle Sorgen entgegensehen zu Können,

Bis in den Sommer hinein haben wir uns dann zusammengeredet, und
am 22, September 1953 unterschrieben wir im Notariat Weitra den
Leibrentenvertrag. So ging es ein letztes Mal ans Packen und im
November übersiedelten wir in unser neues Zuhause. Bei der Ablö-
sung des Viehs, es handelte sich um 2 Pferde, 2 Kühe und einige
Stück Jungvieh im Werte von S 25.000,--, kamen wir aber in die
Klemme. Woher das Geld nehmen? Aber es fand sich doch eine en
Die Clemensgemeinde besorgte uns von der Caritas der Erzdiözes

Wien diesen Betrag als Darlehen. Als wir dann die Überschrei bungs-
kosten mit der Grunderwerbsteuer, alles an die S 10.000,-- bezahlt
hatten, waren wir wieder einmal ohne",

Gleich dem Sprichwort: "Aller Anfang ist schwer" konnten wir
aber doch als eine der wenigen Bauernfamilien, die von ihrer
Scholle vertrieben wurden, unserem alten Bauernstamm wieder eige-
nen Grund und Boden erwerben, um erneut Wurzel schlagen zu kön-
nen. Aber nicht nur dies, unsere Kinder sollten wieder einen Ort
haben, den sie als Heimat lieben und Schätzen sollten.

Möge der Herrgott den Frauen unseres Namens, auch späterer Gene-
rationen, die Kraft und Gnade geben, männlichen Nachkommen das
Leben schenken zu Können.

Auf dem Umschlag unserer Familienchronik steht folgender Leit-
spruch: "Wir leben nicht für uns, sondern für unsere Sippe".

Eines aber liegt mir noch am Herzen. In unserer schwersten Zeit
haben wir oft mit der Welt und dem Herrn wegen unseres Schicksales
gehadert, Ich möchte mich heute bei allen jenen, die gleich der sel.
Herrn und Frau Kugler uns die Hand des Vertrauens, ja der Freund-
Schaft reichten, sehr herzlich bedanken, denn damit halfen sie

uns, wieder an das Gute des Menschen glauben zu können und so zu
unserem Allmächtigen zurückzufinden,

Und zum Ausklang unserer Lebensgeschichte hätte ich noch eine
Bitte an unsere Mutter Gottes in Waldenstein als Fürsprecherin,
daß sie ein Wort für mich und meine Frau einlegt, damit wir noch
einige .gemeisame Jahre. inmitten unserer Kinder, Enkel und
Urenkel verleben können.

Erst wenn du in der Fremde bist,
weißt du wie schön die Heimat ist,

Johann Sommer

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